240 000 Tote, 5,5 Millionen auf der Flucht – grausame Bilanz des 20-jährigen Krieges in Afghanistan
Aktualisiert: 20. Aug. 2021
Insgesamt starben rund 3500 ausländische Soldaten – der Blutzoll der afghanischen Armee war 20 Mal so hoch. Schätzungsweise starben seit 2001 über 67 000 Soldaten und Polizisten in Kriegshandlungen. Die Politiker der NATO-Staaten lassen vor allem sterben, korrumpieren Warlords, die ihre Untertanen dem Westen als Kanonenfutter zur Durchsetzung der Interessen ihrer Konzerne und Milliardäre gefügt machen. So können sie das Sterben eigener Untertanen minimieren, um keinen Widerstand aus den eigenen Bevölkerungen bekommen, denn die Denken nach wie vor vor allem an sich. Auch weil sie einseitige informiert werden. Nur wenn die Toten aus dem eigenen Land mehr werden, wie im Vietnamkrieg, hat es bisher wirksamen Widerstand gegen ihre Kriege gegeben. Das versuchen sie durch Drohnen und eben den Einsatz von Soldaten aus armen Ländern zu vermeiden. Erst 50 tote Franzosen in Mali und Westafrika hat etwa jetzt dazu geführt, dass die Mehrheit der Franzosen erstmals ihren Neo-Kolonialkrieg um die Kontrolle der Rohstoffe und v.a. des Urans für die französischen AKWS diesen Krieg ablehnen. Wie bekommen wir es hin, dass die Mehrheit unserer Bevölkerung sich gegen jeden Krieg stellt und alle Menschen als gleichwertig anerkennt und die NATO-Regierungen mit ihren demokratischen Mitteln verpflichtet, das Völkerrecht zu respektieren und Konflikte nicht mehr mit Krieg und Gewalt, sondern nur mit friedlichen Mitteln zu lösen? Lasst uns gemeinsam lernen, wie wir das erreichen können. IFFW
Den höchsten Preis für den Konflikt zahlten die Afghanen, Kämpfende wie Zivilisten. Mit den Jahren wurde der Konflikt immer blutiger.
Eigentlich hätte 2021 für Afghanistan das Jahr des Friedens werden sollen. Stattdessen eskaliert seit Anfang Mai die Gewalt. Der 20-jährige «Krieg gegen den Terror» der Amerikaner und ihrer Verbündeten erreichte mit der Machtübernahme durch die Taliban in der Hauptstadt Kabul Mitte August einen neuen Höhepunkt – und sein vorläufiges Ende.
Tausende Menschen versuchen verzweifelt, das Land zu verlassen. Diese Personen kommen zu den 2,6 Millionen afghanischen Flüchtlingen, die bereits ausser Landes sind.
Unzuverlässige Statistiken
Zusätzlich haben 240 000 Menschen ihr Leben verloren. Genau wissen kann das niemand. Denn in einem Land, wo seit Jahrzehnten Krieg herrscht, wo die Akteure und Allianzen wechseln und die effektive Kontrolle von nationalen und regionalen Regierungen häufig sehr beschränkt ist, sind Statistiken notorisch unzuverlässig. Zwar lassen sich die Dollars und Euro zählen, welche westliche Regierungen in den Krieg gesteckt haben – die afghanischen Opferzahlen bleiben Schätzungen.
Eine Bilanz versucht das Uppsala Conflict Data Program zu ziehen, das Opferzahlen für Konflikte rund um den Globus berechnet. Etwa die Hälfte aller Getöteten in Afghanistan – 120 000 – waren laut dieser Datenbank Kämpfer der Taliban. Auch die afghanischen Sicherheitskräfte bezahlten einen hohen Blutzoll: Schätzungsweise starben seit 2001 über 67 000 Soldaten und Polizisten in Kriegshandlungen.
In westlichen Medien, insbesondere in den Ländern, die Truppen nach Afghanistan entsandt hatten, standen natürlich die eigenen Opfer im Zentrum der Aufmerksamkeit. Insgesamt starben rund 3500 ausländische Soldaten – der Blutzoll der afghanischen Armee war 20 Mal so hoch. Zwei Drittel der gefallenen Ausländer waren Amerikaner, denn die USA hatten das mit Abstand grösste Kontingent im Land. Die Zahl der westlichen Opfer ist auch deutlich tiefer als die Verluste der Sowjets während ihres zehnjährigen Kriegs zwischen 1979 und 1989: Die Rote Armee verlor damals schätzungsweise 14 000 Mann.
Der Krieg wurde immer blutiger
Mit 47 000 machen Zivilisten – die nach humanitärem Völkerrecht von den kriegsführenden Parteien geschont werden müssen – gut einen Fünftel aller Todesopfer seit 2001 aus. Bei dieser Zahl handelt es sich um die konservativsten Schätzungen lokaler und internationaler Menschenrechtsorganisationen.
Erst ab 2009 wurden auch die Verletzten unter der Zivilbevölkerung gezählt. Die Schätzung liegt bei 75 000. Viele von ihnen sind so schwer verletzt oder behindert, dass sie kein normales Leben mehr führen können.
Auffallend ist, dass der Krieg im Verlauf der Jahre immer blutiger wurde. Die USA griffen am 7. Oktober 2001 Afghanistan an und marschierten ein, als Antwort auf die Anschläge auf das World Trade Center in New York am 11. September. Die Taliban wurden von der Macht gefegt. Ihre Führungsriege und unzählige Kämpfer zogen sich nach Pakistan oder in Verstecke im Gebirge zurück.
In den letzten Jahren wurde es für die Regierung zunehmend schwierig, junge Männer für die Streitkräfte zu mobilisieren und die Getöteten durch neue Rekruten zu ersetzen. Der Gesamtbestand der Truppen sank bereits ab 2017. Wie demoralisiert die afghanischen Truppen waren, zeigte sich in den letzten Wochen, als eine Stadt um die andere, Provinz um Provinz fast ohne Gegenwehr an die Taliban fiel.
Der Konflikt traf zunehmend Zivilisten
Je blutiger der Krieg wurde, desto mehr waren auch Unbeteiligte getroffen. 2019 starben 3400 Zivilisten – mehr als je zuvor seit dem Einmarsch der USA. Die Gewalt gegen Zivilisten dauerte trotz den Friedensverhandlungen in Doha auch 2020 an. In den letzten Monaten nahmen die Opferzahlen noch einmal zu: Nie starben im ersten Halbjahr so viele Zivilisten wie 2021. Die Uno dokumentiere in den ersten sechs Monaten dieses Jahres 1659 Tote und 3524 Verletzte.
Für Zivilisten wurde Afghanistan im Laufe des Krieges gefährlicher.
Der Grossteil der zivilen Opfer wurde in den vergangenen Jahren von den Taliban verschuldet. Denn diese richteten ihre Anschläge immer häufiger gegen Märkte, Schulen, Spitäler, also dorthin, wo sich vor allem Zivilisten aufhielten. Im Jahr 2020 waren die Taliban und andere Aufständische laut der Uno für zwei Drittel der zivilen Opfer in Afghanistan verantwortlich. Im vergangenen Jahr kam über ein Drittel der Zivilisten während Kampfhandlungen in bewohnten Gebieten ums Leben. Das Volk fühlt sich betrogen und verlassen von der internationalen Politik und von der eigenen Regierung, die wiederholt Luftangriffe gegen die Taliban fliegt – ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung.
Die grosse Mehrheit der Afghanen flüchtete in die Nachbarländer Pakistan und Iran. 2020 lebten über 1,4 Millionen Afghanen in Pakistan, rund 780 000 in Iran. Inoffizielle Schätzungen sind zum Teil noch viel höher. Nur ein Bruchteil der Flüchtlinge nahm den weiten Weg nach Europa auf sich. Die meisten von ihnen hatten ein klares Ziel: Deutschland. Die Zahl der afghanischen Flüchtlinge in Deutschland stieg jedoch erst seit der Flüchtlingskrise 2015 markant. In gewissen Ländern sind Tausende von Asylanträgen afghanischer Flüchtlinge noch hängig. So hat die Türkei nur gut 4000 Afghanen als Flüchtlinge anerkannt, rund 125 000 warten noch auf einen Entscheid.
Es ist damit zu rechnen, dass die Zahl der Flüchtlinge in diesem Jahr deutlich ansteigen wird. Bereits stark zugenommen hat die Zahl der intern Vertriebenen, also der Menschen, die innerhalb von Afghanistan Schutz suchen. Viele von ihnen dürften versuchen, Afghanistan zu verlassen.
Innerhalb Afghanistans sind mehr Menschen denn je auf der Flucht Anzahl intern Vertriebene, nach Jahr (in Millionen)
https://www.nzz.ch/international/der-krieg-in-afghanistan-forderte-240000-tote-ld.1640684