Auf dem bundesweiten Aktionstag der Friedensbewegung am 1.10.2022 hielt Friedensaktivist Lutz Getzschmann vor dem Kasseler Rathaus eine Rede. Dabei sagte er Dinge, wie man sie in diesen Tagen oft hört und die typisch sind für ein bestimmtes, „klassisches“ Reaktionsmuster der Friedensbewegung auf den russischen Überfall auf die Ukraine. Unter anderem erklärte er:
„Der russische Einmarsch in die Ukraine, das habe ich und viele andere im letzten Jahr immer wieder gesagt, ist ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg – keine Frage. Ebenso richtig ist aber […] dass Russland aus einer Situation der strategischen Defensive heraus agiert, dass dieser Krieg eine Vorgeschichte hat, die spätestens mit den NATO-Osterweiterungen seit den späten 1990er Jahren begann, unter anderem auch einen Putsch gegen eine völlig korrupte aber frei gewählte Regierung 2014 […] Es ist, wie auch immer man es dreht und wendet, ein Stellvertreterkrieg imperialistischer Mächte.“
Die Forderungen, die er anschließend aufstellte und die sich aus dieser Einschätzung ergeben, repräsentieren jene Richtung der Friedensbewegung, für die er spricht: es dürfe „kein Wirtschaftskrieg“ gegen Russland geführt werden, eine „europäische Friedensordnung unter Einbeziehung Russlands sei zu schaffen“. Kein „Siegfrieden“ und „Waffenstillstand jetzt“. Weiterhin dürfe die deutsche Bevölkerung (und auch niemand sonst in der Welt) durch diesen Krieg wirtschaftliche und soziale Einbußen erleiden, und auch die „medial inszenierte Entrüstungswelle“ müsse endlich aufhören. (siehe: https://www.kasseler-friedensforum.de/720/vortraege/Keine-Profite-mit-unserem-Leben-Waffenstillstand-und-Verhandlungen-jetzt/ 17.12.2022).
Das Argumentationsmuster
Die ganze Argumentation läuft nach einem einfachen Schema: Der russische Einmarsch war ein „völkerrechtswidriger Angriffskrieg“, aber eigentlich ist das hier nur eine Worthülse, aus der nichts weiter folgt. Tatsächlich wurde nämlich Russland bedroht und musste sich wehren („strategische Defensive“). Schuld ist folglich die NATO mit ihren Osterweiterungen sowie Leute (die nicht näher benannt werden), die vor acht Jahren gegen eine „frei gewählte“ Regierung der Ukraine putschten – und somit ein unrechtmäßiges Regime etablierten. Russland dürfe auf keinen Fall mit Sanktionen bestraft werden, unter denen doch letztlich wir alle litten. Man soll auch nicht hartnäckig auf die Einhaltung internationaler Rechtsnormen bestehen („kein Siegfrieden“). Das Wichtigste aber sei, dass niemand wirtschaftliche und soziale Nachteile erleidet (den größten Teil seiner restlichen Rede widmet Getzschmann dann auch der Kasseler Sozialpolitik und einer eingehenden Kritik an Oberbürgermeister Christian Geselle). Und schlussendlich sei auch die öffentliche Empörung über den Angriff auf einen souveränen Staat, dem von Putin das Existenzrecht abgesprochen wird, eine bloße „mediale Inszenierung“, eine substanzlose Theatralik sozusagen, mit der die Bevölkerung getäuscht werden soll.
Diese Rede offenbart einen ideologisch bestimmten „Selektivismus des Sehens“. Keines dieser Narrative hält einem Faktencheck stand.
Ist Russland defensiv?
Historisch war die Politik Russlands gegenüber seinen Nachbarn nie weniger aggressiv als die westlicher Länder. So waren die Eroberungen der Moskoviter im 17. Jahrhundert in Richtung Norden und Eurasien durch eine brutale Ausrottungspolitik gekennzeichnet. Es wurden keine multi-kulturellen Idyllen geschaffen, sondern russifiziert und die indigenen schamanischen Kulturen ihrer Freiheit und Selbstbestimmung beraubt. Nach dem Sturz des Zarenreichs hat die Sowjetunion von der Aushungerungspolitik Stalins gegen die Ukraine in den 1930er Jahren, über die Ermordung zehntausender polnische Offiziere in den Wäldern von Katyn im Zweiten Weltkrieg, die brutale Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes 1956, die Besetzung der Tschechoslowakei 1968 und bis hin zum Krieg in Afghanistan in den 1980er Jahren mehr als einmal demonstriert, dass sie keinesfalls „defensiv“ ist. Imperiale Großmachtambitionen waren auch hier die treibenden Kräfte. Doch anders als die USA in Vietnam, England in Indien oder Frankreich in Nordafrika, hat Russland bisher nicht den siegreichen Aufstand der Kolonialisierten erlebt und den bitteren Geschmack der Niederlage kosten müssen. Noch immer sonnt man sich im Mythos von der unbefleckten und unbesiegbaren Roten Armee. Das erklärt zumindest teilweise den grotesken Patriotismus, dem viele Menschen in Russland bis heute verfallen sind.
Ist die NATO schuld?
Über den Charakter und auch die Verbindlichkeit einer NATO-Zusage, nach der deutschen Wiedervereinigung sich nicht nach Osten auszubreiten, gibt es kontroverse Auslegungen. Selbst Gorbatschow selbst hat sich in zwei Interviews dazu unterschiedlich geäußert. Doch der eigentliche Punkt ist ein anderer: Es waren doch die von Sowjetunion jahrzehntelang unterdrücken Länder, es waren die Polen, die Esten, die Ungarn, die Rumänen usw., die zum Schutz ihrer nationalen Souveränität sowie ihrer neu gewonnenen Rechte und wirtschaftlichen Freiheiten Anträge auf NATO-Mitgliedschaft stellten. Russland hätte im Prinzip diese Möglichkeit ebenso gehabt, einen solchen Antrag jedoch nie eingebrach